Innerer Hieronymus Bosch

■ Leben mit der Shoah: Das 1. Jewish Film Festival im Arsenal

Während der diesjährige Kirchentag unter dem Motto steht „Es ist dir gesagt Mensch was gut ist“, schmückt den Flyer für das erste Berliner Jewish Film Festival ein sinister dreinschauender Mann hinter Sonnenbrille. Man weiß hier nicht so genau, was gut ist, zumal das Thema dieses Festivals „Leben mit der Shoah in der Zweiten Generation“ lautet. Erinnerungen an Orte haben, an denen man nie war; die Eltern beschützen wollen; privates Unglück stets gegen das kollektive der Eltern aufrechnen – wenn Kinder von Überlebenden des Holocaust erzählen, klingt es oft, als beschrieben sie einen inneren Hieronymus Bosch, eine verkehrte Welt mit bizarren Ritualen. Während es aber bislang meist Berliner Linie war (und irgendwie historisch wohl auch sein mußte), unwissentlich weiter am Trauma der Zweiten Generation zu fächeln, indem man die Erlebnisse der ersten Generation in den Vordergrund rückte, gehört die Bühne nun den Kindern.

Neun Filme aus diversen Ländern führen Versuche vor, in irgendeiner Form die eigene Existenz mit der der Eltern gegenzuspiegeln, die dabei mitunter durchaus aus dem Blickfeld geraten können. Drei Kabarettisten aus Australien, Neuseeland und den USA treten des abends vor jüdischem Publikum auf und machen dort ethnic jokes, für die man in diesem Land gescholten, gesteinigt und aus der taz entlassen würde. „Ohhh!“ ruft Debbie Fellner bei Betreten der Bühne, „the last time I saw so many Jews, they were all naked!“ und ist im Laufe des abends mal ihr Vater (zu Besuch in Auschwitz meint er, als Debbie auf die Toilette will: „Beeil dich, ich bin hier schon mal jahrelang eingesperrt gewesen“), mal eine gojische Nachbarin („It's Debbie, the little Jewish girl!“) und dann sie selbst als Teenager (in der Bibliothek: „Hätten Sie nicht noch was Hübsches über die Dreißiger, so mit kleinen Mädchen, die auf dem Dachboden versteckt sind und so?“). Die Aggression gegen die Eltern springt ihnen aus allen Knopflöchern – wie all die anderen Impulse auch: das Retten, die Schuldgefühle, eben nicht auch „dort“ gewesen zu sein, die Irrealität, der Horror ...

„Mina Tannenbaum“ ist ein kleiner Pariser Entwicklungsroman, die Geschichte zweier Mädchen, die eine Kind sephardischer Eltern, die andere osteuropäischen Urspungs, die erstmals in der Schule aufeinandertreffen. Die Sephardin kommt dicklich und glücklich immer geradewegs von sprudelnden orientalischen Fleischtöpfen, aber Mina, Tochter einer Überlebenden, ist dürr, depressiv, grillenhaft, die, wenn sie mal einen wilden Einfall hat, ihre Mutter dräuend als Ghettokind mit großen schwarzen Augen über dem gelben Stern sieht – im Film durchaus als Woody-Allen-Joke inszeniert. „Mina“ ist ein wohlgestaltes, von einem herzzerbrechenden Dalida-Song zusammengehaltenes lustiges Melo, das einfach kein Lesbenfilm werden darf, aber eben irgendwie doch einer ist.

Komischerweise haben beide nördlichen Beiträge, „Freud Leaving Home“ aus Schweden und „Polonaise“ aus Holland etwas bergmannhaftes. Immer treffen große Sommergesellschaften zusammen, finden subkutane Reaktionen statt, deren Initialzündung Jahrzehnte zurückliegt, und deren Eskalation ebenso unvermeidlich wie destruktiv ist. Der Schlag, mit dem der eine sich befreit, trifft den anderen als Todesstoß; und dennoch kommt von irgendwoher eine Art Rettung. Das Mädchen, das alle Freud nennen, läßt sich gerade dann entjungfern, als ihre Mutter mit kardialer Krise im Krankenhaus liegt. Ihre Schwester ist orthodox und will alles richtig machen, ihr Bruder ist schwul und kann nichts mehr richtig machen, und sie, die seit über zwanzig Jahren Mutters Confidante und der Seismograph all ihrer Stimmungen war, streikt – und sei es nur für eine Nacht. Mariam Niroumand

„Jewish Film Festival“: 18.- 24. Juni im Arsenal, Welserstr. 25